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Schulkritik war und ist zumindest seit der Einführung der Schule als verpflichtende öffentliche Bildungseinrichtung ein weites Feld oft ungehemmter Betätigung für Verantwortliche, Verantwortung auf sich nehmende und - im Zeichen nahezu ungebändigter Medienaktivitäten auch zunehmend für Verantwortungslose. Mit wachsender Internationalisierung und Globalisierung wird Bildung immer mehr zu einem wesentlichen Erfolgs- oder Misserfolgsfaktor im Wettbewerb der Nationen. So treten die einstmals großen Fragen der Bildungstheorie hinter ein mehr oder weniger simples Input-Output-Schema zurück, das in erster Linie höchste Bildungseffizienz intendiert und neben der unmittelbaren Verwertbarkeit des Wissens im konkurrenzorientierten Wirtschaftsprozess vor allem auch die Ökonomie schulischer Bildungsarbeit ins Auge gefasst hat. Oblag Schulkritik vor 100 Jahren nahezu allein den Schulbehörden und den sie tragenden Institutionen, also Staat und Kirche, und wurde diese selten öffentlich, so arbeitet heute zwar die staatliche Schulaufsicht immer noch mehr oder weniger effizient, doch die öffentlich wahrnehmbare und wahrgenommene Schulkritik wird von den gesellschaftlichen Gruppen geübt, die eine tragfähige Schulbildung als Grundlage ihrer Arbeit benötigen, also beispielsweise von diversen Unternehmerorganisationen. Auf große Aufmerksamkeit gestoßen und zu deutlicher Unruhe geführt hat die "Third International Mathematics and Science Study" (TIMMS), die von der "lnternational Association for the Evaluation Achievment" (IEA) durchgeführt und im Frühjahr 1997 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Viele sahen sich durch die Befunde dieser Studie in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt, andere ein auf weitgehend falschen Voraussetzungen beruhendes bloßes Katastrophenszenario gemalt. Diese Studie weist den deutschen Schülem und Schülerinnen der 7. und 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich bestenfalls einen Platz im hinteren Mittelfeld zu. "Die Schülerinnen und Schüler der Mehrzahl der nord-, ost- und westeuropäischen Staaten ganz zu schweigen von den meisten asiatischen Ländern - verfügen in Mathematik und den Naturwissenschaften über einen Leistungsvorsprung von mehr als einem Schuljahr ... Der Anteil jener Schüler des 8. Jahrgangs, deren mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten im Wesentlichen auf einem erweiterten Grundschulniveau liegen, ist mit 20 Prozent auch im internationalen Vergleich hoch." (Baumert u. a., TIMMS, Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse, Skript) Gut 100 Jahre früher formulierte die Königliche Distriktsschulinspektion zu Zuständen an der Schule in Gunzenhausen:
"In der Hauptsache leidet die
Mehrzahl der Schulen noch immer an der schon so oft gerügten
geistigen Schwerfälligkeit der Jugend insonderheit an großer
Schwerfälligkeit im Sprechen, an Langsamkeit der Auffassung u. an hochgradiger Unlust zu jeder geistigen
Selbsttätigkeit."
(Weigel, Geschichte der Volksschule in Gunzenhausen, Der Distriktsschulinspektor sprach in seinem Schreiben vom 28. Februar 1882 klar aus, dass er die Ursache der eklatanten Mängel nicht in der Bildungsunfähigkeit der Gunzenhäuser Schuljugend sehe, diese im Gegenteil für sehr wohl bildungsfähig halte, sondem im mangelnden Vermögen und unzureichenden Willen selbst der "im besten Mannesalter" stehenden Lehrer. So forderte er diese ausdrücklich dazu auf, "den Grund ihrer bisherigen Misserfolge nicht immer in der angeblichen Tatenlosigkeit der Schüler, sondern in ihrem fehlerhaften Lehrverfahren zu sehen, demgemäß zunächst Kräftigung ihres eigenen Wollens u. Verbesserung ihrer Methode anzustreben ..." (a.a.O., S. 46) Hier ergibt sich eine interessante Parallele zur aktuellen TIMMS-Studie. Ein intensivierter Drei-Länder-Vergleich zwischen Deutschland, Japan und den USA zeigt am Beispiel des Mathematikunterrichts, dass die Realisierung der Lehrpläne signifikant variiert. Im japanischen Unterricht werden mathematische Themen im Allgemeinen früher als in Deutschland und den USA eingeführt und zunächst mit hoher Intensität behandelt und später mit deutlich reduziertem Zeitaufwand wieder aufgenommen. Japans Schüler nehmen keine anderen Stoffe durch, sondem dieselben mathematischen Inhalte variationsreicher und mathematisch anspruchsvoller als in Deutschland und (nicht nur der Fairness halber sei dies erwähnt) auch als in den USA. "Japanischer Mathematikunterricht ist Problemlöseunterricht. Er schult mathema-tisches Verständnis und mathematisches Denken. Mathematikunterricht in Deutschland und den USA ist eher Wissenserwerbsunterricht, der auf Beherrschung von Verfahren zielt ... Japanischer Mathematikunterricht zeichnet sich durch intelligente Formen des Anwendens und Übens aus. Die von Schülem erarbeiteten Konzepte werden in variierenden Situationen angewandt und damit verfügbar gemacht. Übungen sind oft abwechslungsreicher und kognitiv anspruchsvoller." Nicht nur am Rande ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Lehrkräfte, die in Deutschland in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern unterrichten, im Vergleich zu allen 40 TIMMS-Teilnehmerstaaten das höchste Durchschnittsalter besitzen. Über die Hälfte gehören der Altersgruppe der über 50-jährigen an. Noch einmal zurück zur Gunzenhäuser Schulgeschichte. Die Mängel des Unterrichts im Bezirk Gunzenhausen gaben noch einige Jahre Anlass zu herber Kritik und deutlicher schulaufsichtlicher Maßnahmen. Erst 1899 schien die Zeit didaktischer und methodischer Defizite zu Ende gewesen zu sein und die Königliche Lokalschulinspektion konnte anlässlich einer ordentlichen Schulvisitation das Folgende feststellen: "Nachstehend teile ich aus dem im obigen Betreff ergangenen hohen Regierungsbescheid vom 23. d. Mts. Nr. 17198, folgendes auf die Schulen der Herren Lehrer Bierlein, Brunner u. Marx dahier bezüglicher Stelle zur Eröffnung an die genannten Herren u. zur Hinterlegung im Schulschranke mit:
,Es ist nicht zu verkennen, daß
die in den Visitationsbescheiden der beiden letzten Jahre angesichts
der vielfach konstatierten geistigen Schwerfälligkeit der
Jugend aufgestellten Richtpunkte bei einer Anzahl von Lehrern
Beachtung gefunden haben, und daß dementsprechend die schulpflichtige
Jugend teilweise eine anerkennenswerte Förderung erfahren
hat. Im besondern gilt dies von den Schulen der Lehrer Bierlein,
Brunner u. Marx in Gunzenhausen.' Für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht in Deutschland kann eine solche Lobeshymne nach der Studie der IEA nicht angestimmt werden. Eine genaue Analyse der TIMMS-Studie kann und sollte jedoch möglichst rasch dazu führen, didaktische und methodische Verbesserungsmöglichkeiten in diesem Unterrichtsbereich auszumachen und Verbesserungen anzugehen. Dies kann nur auf der Grundlage einer detaillierten Diskussion bestehender unterrichtlicher Verhältnisse in Deutschland geschehen. Eine bloße Übernahme japanischer Methoden wäre nicht nur zu kurz gedacht, sondem geradezu fatal. Denn Mathematikunterricht in Deutschland ist eingebettet in ein traditionelles und leider schwerfälliges Unterrichtssystem, das unter sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen fast zur Fessel geworden ist. Um einen Teilbereich von Schule zu optimieren, muss das Ganze weiter entwickelt werden. Mehr Gestaltungsfreiheit für die einzelne Schule selbst bei der curricularen Schwerpunktsetzung und ein tendenzieller Ganztagsunterricht sind beispielsweise wichtige Punkte für eine Verbesserung mathematischer Schul- und letztlich eben Schülerleistungen. Unbedingte Voraussetzung sind jedoch kleinere Klassen, damit nicht die gerade in der Hauptschule zunehmenden erziehlichen Probleme sachbezogenes Arbeiten und Unterrichten von vornherein behindern oder gar unmöglich machen. Es gibt also sehr viel zu tun. Spannend werden die nächsten Jahre allemal. Es müssen ja nicht unbedingt 100 Jahre vergehen. Georg Weigel
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